Der Tag der Stille

(04. Mai 2010)
VON KATRIN SCHOELKOPF
Es ist merkwürdig still – trotz des Regens. Der Großstadtlärm scheint ausgeblendet an diesem Ort in Berlins Mitte. Zwischen Brandenburger Tor und Potsdamer Platz fährt kein Auto mehr. Das riesige Areal ist seit Tagen weiträumig abgesperrt. Hier, zwischen den beiden Wahrzeichen Berlins, liegt das Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Morgens ist die Polizei noch mit Hunden zwischen den Stelen patrouilliert. Präzisionsschützen haben auf den Dächern der umliegenden Bauten Stellung bezogen. Von all dem ist jetzt nichts zu spüren. Es herrscht Ruhe. Die nassen grauen Stellen wirken erstaunlich präsent in der Stille.
Zur Eröffnung am Mittag kommen die meisten Gäste zu Fuß. Nur hochrangige Prominente werden in ihren dunklen Dienstwagen vorgelassen. Nach 17 Jahren lautstarker Debatte herrscht nun respektvolles Schweigen im Umfeld des Denkmals, des ersten in Deutschland, das an alle sechs Millionen ermordete Juden erinnert. 60 Jahre nach Kriegsende, nach der Befreiung von Auschwitz, wird das wiedervereinigte Deutschland es heute um 14 Uhr eröffnen. Die Stille macht an diesem 10. Mai 2005 vor niemandem Halt. Alle sind gekommen. Auch die, die das Denkmal jahrelang bekämpft und sich erbitterte Debatten geliefert haben. 1300 Gäste. Sie sitzen nun einvernehmlich zusammen – auch in der ersten Reihe. Bundeskanzler Gerhard Schröder spricht mit dem Architekten des Mahnmals, Peter Eisenman. Der Kanzler wirkt locker. Dabei ist das nicht sein Tag. Er wollte das Denkmal nicht.

Dampfwalze, Kassandra, Pitbull
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, der neben Schröder sitzt, fächelt sich nervös Luft zu. Lea Rosh, die Frau, die alles angestoßen hat, sitzt an der Seite ihres Mannes, Jakob Schulze-Rohr. Es ist ihr Tag.
Am Vorabend war sie in der Philharmonie während des Konzertes zur Denkmaleröffnung mit Standing Ovations geehrt worden. Mit einem „Pitbull“, hatte Mahnmal-Architekt Peter Eisenman sie vor der Eröffnung verglichen. Dieser „Pitbull“ hatte inmitten nicht enden wollenden Beifalls gestanden – sichtlich gerührt. Schließlich war solcher Zuspruch lange Zeit nicht selbstverständlich gewesen. Ganz im Gegenteil, wie war Lea Rosh angegriffen worden. Profilierungssucht, Selbstgerechtigkeit wurden ihr vorgeworfen. Als Dampfwalze, Möchtegern-Jüdin, als Holocaust- Kassandra wurde sie diffamiert. Von höchster Stelle und Parteifreunden blies ihr Gegenwind entgegen. Auch von dem Mann, der jetzt sieben Plätze neben ihr sitzt: Bundeskanzler Gerhard Schröder. Oder dessen Kulturstaatsminister Michael Naumann. Oft waren es Männer, die mit der ununnachgiebigen, eloquenten und zuweilen harsch bis ungerecht auftretenden Frau nicht umgehen konnten. 17 Jahre hatten Lea Rosh und der Förderkreis für das Denkmal gekämpft. Nun wird sie gefeiert. „Nichts ist erfolgreicher als Erfolg“, schoss es ihr in der Philharmonie durch den Kopf, als auch ihre einstigen Widersacher ihr plötzlich auf die Schulter klopften.
Links von ihr im Festzelt sitzt die Holocaust-Überlebende Sabina van der Linden, die wenige Minuten vor ihr ans Rednerpult treten wird. Es ist kein Triumphgefühl, das Lea Rosh verspürt. Es ist eher Freude über diesen fast unglaublichen Moment. Ein Moment, den das ganze Land teilt. Etwas weiter hinten hat Gabor Hirsch auf der Tribüne Platz genommen, die für die Überlebenden reserviert ist. Es hat aufgehört zu regnen. Die Gefahr, alles noch einmal hautnah zu spüren – die ständige Angst, die Demütigung, den Hunger, das Grauen – ist Gabor Hirschs ständiger Begleiter. Gabor Hirsch hat Auschwitz überlebt. Warum ist er nach Berlin, nach Deutschland gekommen? In das Land der Täter. Lange Zeit hatte er keine Antwort auf die Frage. Es ist ein Denkmal der nicht jüdischen Deutschen, es soll die nicht jüdischen Deutschen an ihr Verbrechen erinnern. Was soll er – der Jude – bei dieser Eröffnung? Nun aber ist er hier – mit seinem Sohn und seiner Frau. Die Entscheidung hatte er sich nicht leicht gemacht. Er kennt hier niemanden. Die Ungewissheit, was heute auf ihn zukommen wird, beunruhigt Hirsch.
Da taucht sie wieder auf, die Stille. Breitet sich in dem großen Zelt aus. Die Musiker der jungen deutsch-polnischen Philharmonie Niederschlesien erheben sich von den Stühlen. Applaus. Die Violinistin legt sich die Noten zurecht. Gerhard Schröder lächelt. Wolfgang Thierse schaut angespannt auf sein Redemanuskript. Absolute Stille. Die Solistin setzt den Bogen zu Arvo Pärts „Fratres“ an. Schnelle, fast hetzende Töne erfüllen das Zelt. Schon der gestrige Tag war anstrengend, denkt Gabor Hirsch. Um 10 Uhr hatte die Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas ihn zu einer Pressekonferenz in die Landesvertretung Rheinland- Pfalz geladen. Der moderne Bau in den Ministergärten grenzt unmittelbar an das Mahnmal. Hirsch hatte an der Ecke eines riesigen Konferenztisches Platz genommen und sich etwas verloren gefühlt. Nur zwei Journalisten waren gekommen. Hirsch begann zu erzählen. Dass er 1929 im ungarischen Békéscsaba südöstlich von Budapest geboren wurde. Dass er, als die deutsche Wehrmacht 1944 in Ungarn einmarschierte, 14 Jahre alt war. Sachlich nüchtern, hatte er berichtet. Das Schweigen der Journalisten war ihm nicht entgangen. Was er schilderte, war furchtbar, löste Beklemmung aus. Je schlimmer die Geschichte wurde, umso sachlicher sprach Gabor Hirsch. Sein Gesicht sagte etwas anderes. Tränen standen ihm in den Augen. Die Stille, wenn Hirsch Pausen machte, beklemmend. Am liebsten wären die Zuhörer weggerannt. Der Respekt vor den Opfern aber verlangte das Bleiben. Schließlich hatte Hirsch das Unfassbare, das Brutale, das Unmenschliche ertragen müssen. Hirsch erzählt, wie er am 27. Juni 1944 mit seiner Mutter im Waggon nach Auschwitz deportiert wurde. Wie er zwei Tage später mit seiner Mutter an der Rampe steht und als „arbeitsfähig“ „selektiert“ wird. Dass er sich nicht mehr erinnern kann, wie er von seiner Mutter getrennt wird. Als die Russen ihn am 27. Januar 1945 befreien, ist Gabor gerade 15 Jahre alt geworden. Er kann sich kaum bewegen und wiegt nur noch 27 Kilo. Seine Mutter hat er nie wieder gesehen.

Vorstellung von Vereinsamung
Die Musik wird jetzt leiser. Sanft streicht die Violinistin über die Saiten. Durch die Fenster wirken die Stelen übermächtig, als begehrten sie Einlass. Leise wird die Pauke angeschlagen, wie zum Auftakt des nun einsetzenden Crescendos. Lange hatte Gabor Hirsch gar nicht über sein Schicksal sprechen können. Auch seine Stiefmutter wollte nichts davon hören. In seiner ungarischen Heimatstadt waren die Opfer kein Thema. Plötzlich scheint die Sonne grell ins Festzelt. Die beleuchteten Stelen vor den Zeltfenstern drängen sich förmlich auf. Groß, mächtig und mahnend. Bundestagspräsident Wolfgang Thierse ist noch immer aufgeregt, wedelt sich Luft zu. Gleich wird er ans Mikrofon treten. Er steht stellvertretend für das deutsche Volk und wird erklären, dass sich das wiedervereinigte Deutschland zu seiner Geschichte bekennt. Deswegen hatte der Bundestag 1999 den Bau des Denkmals beschlossen. Thierse wird sagen, dass dieses Denkmal an das schlimmste, entsetzlichste Verbrechen Nazideutschlands erinnert.
„Dieses Denkmal ermöglicht eine sinnlich-emotionale Vorstellung von Vereinsamung, Bedrängnis und Bedrohung.“ Der Ort der Information dagegen gebe den Opfern Namen, Gesichter und Schicksale. Der Anstoß für dieses Denkmal ist aus einer Bürgerinitiative entstanden. Auch das betont der Bundestagspräsident und dankt Lea Rosh und Eberhard Jäckel für ihre „geduldige Ungeduld, ihr unbeirrbares, störrisches Engagement, mit dem sie bis heute das Projekt getragen haben“.
Lea Rosh nimmt in der ersten Reihe ernst den Dank entgegen. Am Morgen war Lea Rosh noch einmal ihre Rede und die „Holunderblüte“ durchgegangen, das Gedicht von Johannes Bobrowski gegen das Vergessen. Sie, der man Härte bescheinigte, war aufgeregt. Sie wusste, dass sie zur Eröffnung auch denen begegnen würde, die sie angefeindet hatten, die das Denkmal nicht wollten. Gerhard Schröder zum Beispiel. Im August 1998 – kurz vor der Bundestagswahl, Schröder wollte Kohl ablösen – hatte er ihr über seinen designierten Kulturstaatsminister Michael Naumann aus Amerika mitteilen lassen, dass er das Schloss, aber auf gar keinen Fall das Denkmal bauen werde. Eine ungeheure Enttäuschung, ein grauenhafter Moment für Lea Rosh. Wie diesem Bundeskanzler nun begegnen? Sie hatte beschlossen, nur Guten Tag zu sagen. Mehr nicht.

Helmut Kohl wollte das Denkmal
Schröder sitzt jetzt sieben Stühle von ihr entfernt. In ihrer Rede wird sie Bundeskanzler Helmut Kohl danken, der das Denkmal wollte, zur Eröffnung aus Krankheitsgründen aber nicht anwesend ist. Unter seiner Regierung hatte der Bund 1992 in einer Vereinbarung mit dem Land Berlin das Grundstück auf dem ehemaligen Grenzstreifen nahe dem Brandenburger Tor zur Verfügung gestellt. Kohl allerdings hatte dem Projekt auch einen Rückschlag beschert. 1995, nachdem der erste Wettbewerb für das Denkmal abgeschlossen war, stoppte der Kanzler das Verfahren. Der Entwurf von Christine Jakob-Marks, der eine 164 mal 164 Meter große Platte mit den Namen der ermordeten Juden vorsah, war ihm zu „gigantomanisch“. Rosh hatte diese Nachricht wie ein Schlag getroffen. Das Projekt sollte um ein Jahr zurückgeworfen werden.
Der Durchbruch kam erst vier Jahre später unter Rot-Grün, als der Bundestag am 25. Juni 1999 mit 314 zu 209 Stimmen für den Bau des Denkmals in Gestalt des überarbeiteten Entwurfs von Peter Eisenman und Richard Serra stimmte. „Eisenman II“, wie die von Kohl angeregte Überarbeitung genannt wurde, hatte statt 4000 nur noch 2711 Stelen und den Ort der Information. Es war übrigens einer der letzten Bundestagsbeschlüsse, die in Bonn gefasst wurden. Zustimmung und Ablehnung waren quer durch alle Fraktionen gegangen. Der Beschluss war ein großer Moment für Lea Rosh und Eberhard Jäckel, die beiden Initiatoren des Denkmals, denn nun hatten sie die Idee durchgesetzt. Gegen alle Widerstände und Widersacher. Ein Erfolg der Zivilgesellschaft.
Einer der Widersacher war Michael Naumann gewesen. Harte Angriffe hatte Naumann kurz vor der Wahl im September 1998 als designierter Kulturstaatsminister gegen den Denkmalentwurf von Peter Eisenman gerichtet. Von „dubioser Monumentalität“ sprach er und warf Lea Rosh „Eiferertum“ vor. Parallel und hinter dem Rücken zu den Aktivitäten des Förderkreises von Lea Rosh gewann er Eisenman für seine Idee eines Holocaust- Museums, eines gigantischen „Hauses der Erinnerung“ unter der Erde. 180 Millionen Euro und damit ein Vielfaches des Denkmals sollte es kosten. Es war Hans-Jochen Vogel, der in der SPD-Fraktion gegen den Naumann-Plan argumentierte – allein schon wegen der immensen Kosten – und überzeugte. Naumann war gescheitert.
Jetzt sitzt Naumann im Zelt und ist wie alle Festgäste für das Denkmal. „Nichts ist erfolgreicher als Erfolg“, denkt Lea Rosh. Die Sonne beleuchtet noch immer die regennassen Stelen. Erhaben wirken sie. Rosh kann es kaum glauben, es ist geschafft.
In der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem hatte alles angefangen. Im Sommer 1988. Mit dem Historiker Eberhard Jäckel war Rosh nach Israel gereist, um für ihre vierteilige TV-Dokumentation „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ Interviews mit Überlebenden zu führen. Auch ein Besuch in Yad Vashem steht auf dem Programm. Die Sonne scheint, es ist angenehm warm. Jäckel und Rosh gehen die Allee der Gerechten entlang, dort, wo die Namen der Retter zu lesen sind, als Jäckel feststellt, dass es in Deutschland, im Land der Täter, kein Denkmal für die ermordeten Juden in Europa gibt. Lea Rosh muss gestehen, dass Jäckel Recht hat. Sie beschloss – und versprach es Jäckel noch auf der Allee der Gerechten –, diese Idee umzusetzen. Dass das 17 Jahre dauern sollte, wäre ihr nicht in den Sinn gekommen.
Nun aber ist es vollbracht. Bundestagspräsident Wolfgang Thierse beendet seine Rede mit der Mahnung, dass das Gedenken der Opfer der Gegenwart und Zukunft verpflichtet sein müsse –„zu einer Kultur der Humanität, der Anerkennung, der Toleranz in einer Gesellschaft, in einem Land, in dem wir ohne Angst als Menschen verschieden sein können“. Applaus. Thierse geht zu seinem Platz, setzt sich erschöpft. Gerhard Schröder, der neben ihm sitzt, wirkt distanziert. Erst später scheint auch Schröder berührt zu sein und legt seinen maskenhaften Ausdruck ab. Doch zunächst spricht Paul Spiegel, Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland. Spiegel steht dem Denkmal- Projekt kritisch, aber nicht ablehnend gegenüber. Den Bundestagsbeschluss von 1999 nennt er „ein wichtiges und notwendiges Signal im Kampf gegen das Vergessen“. Das Gleiche bescheinigt er auch der öffentlichen Debatte.
Doch an dem Mahnmal fehle ihm der Verweis auf die Täter. Der Ort der Information sei unerlässlich. Spiegel weist darauf hin, dass das Mahnmal kein zentraler Gedenkort der Juden ist. „Nirgendwo sind wir den Verstorbenen näher als an den authentischen Orten wie den heutigen Gedenkstätten Buchenwald, Auschwitz oder Dachau.“
Doch der Zentralratsvorsitzende geht nicht so weit wie andere Kritiker. So hatte der deutsch-israelische Schriftsteller Rafael Seligmann mit Verweis auf die authentischen Gedenkorte das Mahnmal noch vor wenigen Tagen „überflüssig“ genannt. Andere hatten es als Kranzabwurfstelle, Trauerkitsch oder auch gigantomanisch kritisiert. Die Debatte war unmittelbar der Idee gefolgt. Gestritten wurde über den Standort, die Größe, den Sinn. „Es ist kein nettes Denkmal, es ist ein anstößiges. Und so soll es auch sein“, hatte Bundestagspräsident Thierse immer wieder betont.
Paul Spiegel beendete seine Rede. Auch wenn das Mahnmal kein authentischer Ort sei, es könne doch das Herz und Gewissen eines jeden Besuchers erreichen und dazu beitragen, jene Erinnerung wachzuhalten, die mit dem Verstummen der Zeitzeugen zu verblassen drohe. Auch die Zeitzeugen, die an der Eröffnung des Denkmals teilnehmen, sind in hohem Alter. Sabina van der Linden, die Überlebende, die eigens aus Australien angereist ist, ist 78 Jahre alt. In die „Höhle des Löwen“ habe sie sich gewagt, wird Sabina van der Linden später in ihrem Tagebuch an ihre ermordete Mutter schreiben. Nervös sei sie gewesen, aber nicht ängstlich. Überlebende, die eigens aus Australien angereist ist, ist 78 Jahre alt. In die „Höhle des Löwen“ habe sie sich gewagt, wird Sabina van der Linden später in ihrem Tagebuch an ihre ermordete Mutter schreiben. Nervös sei sie gewesen, aber nicht ängstlich.

Die Stimme der Überlebenden
Die zierliche Frau wirkt jugendlich, als sie ans Mikrophon tritt. Sie spricht für die Opfer, auch für Gabor Hirsch. Sie ist die einzige Überlebende ihrer Familie. Mit fester Stimme nennt sie diesen heutigen Tag außergewöhnlich, so außergewöhnlich, dass sie ihn sich nicht in ihren kühnsten Träumen hätte ausmalen können. Dass dieses großartige Denkmal, die Vision von Lea Rosh und deren Mitarbeitern, an diesem Ort und nach diesen Auseinandersetzungen nun eingeweiht wird und sie dabei ist, beeindrucke sie und mache sie dankbar. Sie fühle sich geehrt, sagt Sabina van der Linden. „Denn ich bin die Stimme der sechs Millionen misshandelten und ermordeten Juden, darunter eineinhalb Millionen Kinder, und ich bin auch die Stimme der wenigen, die davongekommen sind, – die Stimme der Überlebenden.“ Gerhard Schröder setzt sich zum ersten Mal die Brille auf, um den Menschen am Mikrofon besser sehen zu können. „Versuchen Sie nicht, die ältere Frau zu sehen, die vor Ihnen steht, sondern ein elfjähriges Mädchen aus Boryslaw, einem kleinen Ort im damaligen Polen.“ Sabina van der Linden erzählt, wie die deutsche Wehrmacht ihre Stadt besetzt. Wie ein zweitägiges Pogrom beginnt, Polen und Ukrainer ihre jüdischen Nachbarn angreifen und die deutschen Behörden ihnen freie Hand lassen. Sie erzählt, wie sie als Kind Zeugin von unbeschreiblichen Grausamkeiten wird. „Wie können Menschen, ganz normale Menschen, so herzlos und grausam sein?“ Sie darf ihren geliebten Hund, ihre geliebte Katze nicht behalten. Ihre Freunde dürfen nicht mehr mit ihr spielen. Sie darf nicht mehr zur Schule gehen. Sie erzählt von der Selektion. „Ich klammere mich verzweifelt an die Hand meiner Mutter, aber ich werde brutal von ihr getrennt. Ich sehe meine Mutter nie wieder.“ Erst Monate später erreichen sie Gerüchte vom Todeslager Belzec. Im Zelt ist es entsetzlich still. Gerhard Schröder hat die „Was kostet die Welt“-Maske abgelegt. Er blickt ergriffen, hat Tränen in den Augen.
Sabina van der Linden spricht inzwischen von „Zuversicht“, vom „Sieg aller guten Menschen über das Böse“ und zitiert den Schriftsteller und Überlebenden Elie Wiesel: „Die Kinder der Mörder sind keine Mörder. Wir dürfen ihnen niemals die Schuld für das geben, was ihre Vorfahren getan haben. Aber wir können sie dafür zur Verantwortung ziehen, wie sie mit der Erinnerung an das Verbrechen umgehen.“ Sabina van der Linden, die Stimme der sechs Millionen ermordeten Juden, die Stimme der Überlebenden, spricht von Versöhnung. Es ist Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, der sich als Erster von seinem Platz erhebt. Und dieser großen Geste Ehrfurcht, Respekt und Dankbarkeit zollt.